Juli 1, 2021

Lesbia-36-oder-Vor-Sonnenaufgang

Von Barbara Jakob

Mütter & ihre Kronprinzen oder Deutsche Frauen liebten Hitler

Tschak tschak… die Einschläge kommen näher. Mein Vater kehrte 1946 aus der russischen Kriegsgefangenschaft zurück. Und da meine Eltern sich sehr darüber freuten, einander lebend wiederzusehen, zeugten sie mich. Es war Mai, der Wonnemonat, und der Krieg seit einem Jahr zuende – was lag näher, als Liebe zu machen und mich dabei zu zeugen?

Geheiratet hatten sie Anfang 1940, bald nach Ausbruch des Krieges, als der Einberufungsbefehl kam und mein Vater an die Front musste.

Die Heirat meiner Eltern war keine typische Kriegsheirat. Sie kannten sich schon länger und hatten vorgehabt, zu heiraten und eine Familie zu gründen – damals das Übliche, wenn man einander liebte und zeigen wollte, dass man es ernst miteinander meinte.

Deshalb willigte meine Mutter auch ein, als ihre zukünftige Schwiegermutter darauf bestanden hatte, ihre Schwiegertochter in spe solle vor der Eheschließung mit ihrem Erstgeborenen doch bitteschön erst einmal kochen und die Haushaltsführung erlernen, bevor ein gemeinsamer Hausstand gegründet wurde.

Als höhere Tochter hatte meine Mutter während ihrer Schulzeit vieles gelernt. Kochen und Haushalt hatten nicht dazu gehört.

Denn meine Mutter liebte die Musik. Sie konnte gut singen und entwickelte Talent am Klavier. Ihr gefühlvolles Klavierspiel gefiel allgemein und als Kind und junges Mädchen war die Musik ihr Mittel, sich als Drittjüngste von acht Geschwistern bei ihren Eltern Gehör zu verschaffen. Damit sie genügend Aufmerksamkeit und Liebe abbekam. Deshalb übte sie lieber stundenlang am Klavier als ihrer Mutter im Haus und in der Küche zur Hand zu gehen.

Mit ihren Knöpfstiefelchen, ihrer Schnürtaille und ihrer Vorliebe für die französische Sprache hatte meine Großmutter mütterlicherseits nach ihrer Heirat 1903 sich eher als eine Dame der Belle Epoque gefühlt denn als gewöhnliche deutsche Hausfrau und eine Haushaltshilfe beschäftigt und bezahlt, solange sie das Geld dafür gehabt hatte.

Nach dem Ersten Weltkrieg, als meine Mutter Kind war (sie wurde 1916 geboren), sah das dann schon anders aus. Da hatte sich die finanzielle Situation der Familie dramatisch verschlechtert. Trotzdem musste meine Mutter ihrer Mutter bei der Hausarbeit nicht helfen, wenn sie nicht wollte. Dementsprechend wenig Erfahrung hatte sie mit Haushalt.

Da ihre zukünftige Schwiegermutter jedoch darauf bestand, hatte meine Mutter schließlich eingewilligt und vor ihrer Heirat ein halbes Jahr lang ein Institut des Grafen Ballestrem besucht – eine Frauenschule, wo sie auch kochen lernte (die „feine Küche“ wie sie später betonte, wenn sie von dieser Zeit in ihrem Leben erzählte).

Was sie in dem gräflichen Institut nicht lernte, war, wie eine Ehefrau lustvoll und ohne Schuldgefühle mit ihrem Ehemann vögelt. Meine Mutter lernte es nicht, weil es zu der Zeit in Deutschland unüblich und auch unwichtig war, ob eine Ehefrau beim Sex mit ihrem Ehemann Lust empfand und einen Orgasmus erlebte oder nicht. Hauptsache, der Mann erlebte einen. Sodass sich alsbald der gewünschte Nachwuchs einstellte – möglichst ein Sohn und Stammhalter.

Sex war zu der Zeit nur legitim (und ist es bei Katholiken noch heute), wenn dabei ein Kind gezeugt wurde. Lust und Freude an der körperlichen Liebe waren nebensächlich, verdächtig gar. Besonders bei einer Frau.

Meine Eltern waren jedoch auch in dieser Hinsicht erfolgreich. Pünktlich zum Jahresende 1940 kam ihr erstes Kind zur Welt – ein Sohn, mein älterer Bruder Landrich.

Dass Sex und körperliche Liebe auch etwas Schönes sein können, selbst wenn kein Kind dabei gezeugt wird, lernte meine Mutter nicht. Sie konnte es nicht lernen. Denn wie die meisten jungen Frauen ihrer Zeit ging auch sie als Jungfrau – virgo intacta – in die Ehe.

Damals (und heute?) herrschte hinsichtlich vorehelicher sexueller Erfahrungen eine Doppelmoral: junge Männer durften vor der Ehe Erfahrungen sammeln. Man sah es ihnen nach, erwartete es sogar von ihnen. Mädchen und junge Frauen dagegen riskierten, als „schlechte Mädchen“, „Schlampen“ oder sogar „Huren“ gebrandmarkt zu werden, wenn sie die gleiche Neugier an den Tag legten wie ihre Brüder.

Die Sex-Erfahrungen meiner Mutter konzentrierten sich also auf ihren Ehemann: learning by doing war ihre Devise.

Überhaupt war Lernen für meine Mutter lange Zeit in ihrem Leben wichtig (als sie alt wurde, verlernte sie es jedoch). Aber sie interessierte nicht so sehr das Wissen, das in Regelschulen gelehrt wurde. Diese waren zu ihrer Zeit sehr obrigkeitsstaatlich und autoritär und vermittelten eine Bildung für die oberen Zehntausend. Da ihre Familie nicht zu jenen zählte, bevorzugte meine Mutter das Wissen, das man in der „Schule des Lebens“ erwirbt.

Auf diese Weise lernte sie als junge Frau auch das Geldverdienen. Sie lernte es nicht mit ihrem Klavierspiel und auch nicht mit ihrem schönen Gesang. Und sie lernte es auch nicht im Institut des Grafen Ballestrem. Denn zum Geldverdienen braucht es Fachleute. Und die kamen damals nicht gerade aus dem deutschen Adel.

Meine Mutter kannte sich aus mit Adel. Ihre Mutter kam aus kleinem grundbesitzenden Landadel und noch bei ihrer Heirat hatte meine Großmutter mütterlicherseits eine ansehnliche Mitgift in ihre Ehe einbringen können.

Zehn Jahre später hatte das schon anders ausgesehen. Da löste sich ihr Erbe innerhalb nur weniger Jahre praktisch in Nichts auf.

In erster Linie durch die Kriegsanleihen des Kaisers, zu denen dieser seine Untertanen nötigte (selbstverständlich zeichnete meine kaisertreue, adlige Großmutter in patriotischer Pflichterfüllung und ohne zu murren seine Anleihen). Dann machte die Geldentwertung und Hyperinflation die Menschen arm. Außerdem hatte die Familie meiner Mutter das Pech, dass ihr Haus nach der neuen Grenzziehung von 1921 plötzlich im polnischen Teil Oberschlesiens stand, und sie es von heute auf morgen räumen mussten.

Darüber hinaus hatte es auch noch ungeschickt versteckte Goldtaler aus der großmütterlichen Mitgift gegeben, die mein Großvater vor den patriotischen Anwandlungen seiner Ehefrau zu retten versucht hatte. Beim nächtlichen Vergraben des Schatzes unter einem seiner Birnbäume im Garten hatte er sich jedoch unwissentlich von einem Unbekannten beobachten lassen. Der sie sich in einer der folgenden Nächte holte. Und dann war da noch ein Grundstückstausch gewesen, bei dem sich das eingetauschte Grundstück auf der deutschen Seite als völlig überschuldet erwies.

Diese Vorkommnisse machten die ursprünglich wohlhabende Familie meiner Mutter innerhalb weniger Jahre arm.

 Doch die Mutter meiner Mutter war nicht nur eine kultivierte und liebenswerte Dame gewesen, die gern französisch sprach, die schwedische Sängerin Jenny Lind verehrteund sich für die Suffragetten interessierte (sie sorgte dafür, dass auch ihre Töchter eine Berufsausbildung erhielten, nicht nur der einzige Sohn).

Sie war auch eine praktisch veranlagte Frau. Statt ihre Kinder in der Notzeit nach dem Ersten Weltkrieg auf Hungerrationen zu setzen, hatte sie gemeinsam mit einem ihrer sieben Brüder kurzentschlossen eine Gastwirtschaft mit Biergarten in Bahnhofsnähe gepachtet und dafür gesorgt, dass diese sehr bald sehr gut lief. Sie war der Meinung, wenn sie schon täglich kochen musste, konnte sie es ebenso gut auch gewinnbringend tun.

Außerdem stimmte sie auch endlich dem Beschluss des Familienrates zu, den Adelstitel der Familie an einen Interessenten aus dem Bürgertum zu verkaufen.

Nach der Ausrufung der Republik in Deutschland war ein „von“ vor dem Namen in weiten Kreisen obsolet geworden. Wozu also den nutzlosen alten Krempel weiter mit sich herumschleppen, wenn man inzwischen so arm war, dass man das Essen für die Kinder und die Miete nicht mehr bezahlen konnte, und sein Verkauf Abhilfe schaffte?

 Vermutlich war es dieser Sinn fürs Praktische, der meine Mutter nach dem frühen Tod ihrer Mutter bewog, der Geldnot der Familie dadurch zu entfliehen, dass sie ihr Klavierstudium aufgab, das Lyceum verließ und eine kaufmännische Lehre in einem jüdischen Geschäft für Tuch- & Webwaren begann. 

Mit dem Tod ihrer warmherzigen, gebildeten Mutter war auch die Seele ihres Elternhauses gestorben. Jetzt war niemand mehr da, der sich um die jüngeren Schwestern kümmerte und für sie kochte, niemand, der der begabten Drittjüngsten den Rücken freihielt, wenn sie am Klavier übte, niemand, der sich um das Haus kümmerte.

Zwar hatte ihr Vater nach dem Tod seiner Frau zunächst versucht, eine Haushälterin einzustellen. Doch sobald die interessierten Damen sich vorstellten und der mehrköpfigen Kinderschar ansichtig wurden, hatten sie der anfangs so verlockenden Arbeitsstelle (ein Witwer mit Beamtenpension!) fluchtartig den Rücken gekehrt.

 Meine Mutter fügte sich den Wünschen ihrer Schwiegermutter und lernte neben ihrer Arbeit als Geschäftsführerin ihres ehemaligen Ausbildungsbetriebs (sie hatte dort Karriere gemacht) auch noch kochen und Haushaltsführung. Doch als ihre Schwiegermutter 1943 starb, kaufte sie sich ein knallrotes, teures Kostüm aus hauch-dünner, gezwirnter Wolle und trug es bei deren Beerdigung.