Juli 6, 2021

Frankfurt oder Shlofn in Goyles I

Von Barbara Jakob

                                                                                                                        

Im Grunde sind es doch Verbindungen mit Menschen, die dem Leben seinen Wert geben.
Wilhelm von Humbodt

Als Kind lebte ich zehn Monate lang in Frankfurt. Dort wohnte die ältere Schwester meiner Mutter mit ihrer Familie, Tante Enrica. Wir waren damals neu in Westdeutschland und Tante Enrica wollte ihrer jüngeren Schwester bei diesem Neuanfang helfen. Sie hatte das alles schon zehn Jahre früher durch-gemacht und bot meiner Mutter an, zwei ihrer sieben Kinder bei sich aufzunehmen. Für eine gewisse Zeit natürlich nur.

Meine Eltern hatten damals mit tausend neuen Schwierigkeiten zu kämpfen: sie mussten sich eine neue wirtschaftliche Existenz aufbauen, eine Wohnung finden, diegroß genug für ihre große Familie und trotzdem bezahlbar war, und, das Wichtigste – herausfinden, wie die Westdeutschen tickten. D.h. die westdeutschen Regeln kennen- und befolgen lernen.

Denn meine Eltern waren zwar Deutsche, doch Westdeutschland war ein fremdes Land für sie. Für mich auch. Aber als Kind war ich gut darin, mich in einem fremden Land zurechtzufinden. Ich bin es noch heute.

Meine ältere Schwester und ich kamen also nach Frankfurt. Tante Enrica wollte ihrer jüngeren Schwester ihre Dankbarkeit zeigen, weil meine Mutter sie ihrerseits bei sich aufgenommen hatte, als sie mit ihrem vierten Kind schwanger gewesen und gegen Ende des Krieges ausgebombt worden war. Damals hatte Tante Enrica über Nacht vor dem Nichts gestanden. Das Haus, in dem sie mit ihrer Familie wohnte, lag plötzlich in Trümmern und sie hatte nicht gewusst, wohin mit ihren drei Töchtern und dem vierten Kind, das in ihrem Bauch heranwuchs.

Meine Mutter dagegen wohnte zu der Zeit in einer großen Wohnung, die meine Eltern sich bei ihrer Heirat eingerichtet hatten. Den Familienerzählungen zufolge soll diese Wohnung wundervoll gewesen sein. Sie schlug ihrer Schwester deshalb vor, sie solle mit ihren Kindern zu ihr kommen. Platz genug gäbe es bei ihr. Darüber hinaus hätte das auch den Vorteil, dass sie besser geschützt wären, wenn die Russen kämen. Denn wie viele Frauen im Osten hatten beide Schwestern damals Angst vor den Soldaten der heranrückenden Roten Armee, die nicht viel Federlesens mit den jungen Frauen des faschistischen Feindes machten. Hätten diese Frauen jedoch kleine Kinder, würden die Russen von Vergewaltigungen absehen. So jedenfalls ein Gerücht. Aus Respekt vor deren Muttertum.

Und kleine Kinder hatten damals beide Schwestern, die ältere drei und bald vier, die jüngere zwei (wenig später stießen noch zwei weitere der sieben Schwestern meiner Mutter dazu, auch sie mit kleinen Kindern).  

In Frankfurt war ich zehn, ein kleines Mädchen mit blonden Zöpfen, das deutsch und polnisch sprach und wieder einmal zeigen sollte, was in ihm steckte. Ich zeigte gern, was in mir steckte, durchaus, denn ich wusste, in mir steckte viel. Aber in Frankfurt fühlte ich mich von meinen Eltern doch auch allein gelassen. Meine ältere Schwester blieb nur kurze Zeit bei der Tante und kam bald darauf in ein Internat.

Es war nicht das erste Mal, dass ich allein war, nur auf mich gestellt. Vor Frankfurt war ich drei Monate lang in Schweden gewesen, zusammen mit meinem jüngeren Bruder und einer jüngeren Schwester. Schwedische Gastfamilien hatten sich bereit erklärt, die Kinder deutscher Spätaussiedler bei sich aufzunehmen, um deren Eltern beim schwierigen Neuanfang zu entlasten. Als ältere müsse nun ich auf die beiden jüngeren achtgeben, schärften mir meine Eltern ein, als wir in den Bus der Kinderverschickung stiegen. Ich trüge jetzt Verantwortung.     

In Frankfurt fühlte ich mich tapfer wie schon zuvor in Schweden und davor in der polnischen Grundschule – ein furchtloses kleines Mädchen in einer neuen, unbekannten Umgebung. Und da mir meine Rolle als Vorzeigekind der Familie gefiel, legte ich mich auch hier wieder ins Zeug und war wieder gut in der Schule wie schon zuvor in der polnischen Grundschule (in Frankfurt hieß die Schule jetzt Kuhwaldschule, das fand ich lustig).

Gut in der Schule sein war meine Überlebensstrategie als kleines Mädchen. Ich hatte früh verstanden, dass ich mich in einer unfreundlichen oder gar feindlichen Umgebung auf diese Weise behaupten konnte (die Westdeutschen ließen es uns spüren, dass wir aus dem Osten kamen, für sie waren wir „der letzte Dreck“).

Mein Achtgebenmüssen, dass ich von anderen nicht an die Wand gedrückt oder untergebuttert wurde, hatte aber schon früher begonnen. Als drittes von sieben Kindern musste ich schon bald nach meiner Geburt mit zwei älteren Geschwistern zurechtkommen, die nicht gerade erfreut darüber gewesen waren, als ich dazukam. Und da sich auch die Begeisterung meiner Mutter über ihr drittes Kind anfangs in Grenzen hielt (sie hatte schon zwei, das reichte ihr eigentlich), hatte ich schon früh Bekanntschaft mit den unfreundlichen Gefühlsregungen meiner Mitmenschen gemacht.

     Tante Enrica aber war freundlich. Sie war sogar liebevoll und behandelte mich wie eine ihrer Töchter, deren Wünsche die Tante erstaunlich ernst nahm. Respektierte. Diesen Respekt töchterlichen Wünschen gegenüber kannte ich von meiner Mutter nicht.

Ich fühlte mich in Frankfurt also ein wenig abgeschoben und dachte manchmal, dass meine Eltern mich nicht mehr haben wollten. Nicht bei sich haben wollten. Denn wieso schickten sie mich ständig überall in der Welt herum? – Erwünscht sein. Unerwünscht sein. Deutsche aus dem Osten sind in Westdeutschland unwillkommen. Sie nennen uns Flüchtlinge. Dabei sind wir gar keine Flüchtlinge! In unserem Ausweis steht etwas Falsches. Unser Weggang aus Polen war keine Flucht. Es war eine gut organisierte, aufregende Bahnreise. Und Vertriebene sind wir schon gar nicht! Denn die Polen wollten nicht, dass wir gehen. Sie wollten, dass wir bleiben.  

Aber da ich mich früh entschieden hatte (und später immer wieder), meine Talente zu entwickeln und anzuwenden, lernte ich auch in Frankfurt wieder alles, was es zu lernen gab. Und zwar alles so schnell und alles so gut wie möglich. Ich will immer die beste sein und tue alles, was man von mir erwartet/ verlangt. Denn dann werde ich von den Erwachsenen gut behandelt und beschützt. Besonders von meinem Vater. Meine Mutter ist da weniger eindeutig. (Allerdings gab es schon damals ein paar Dinge, die ich nicht lernen wollte. Nicht lernen würde. Niemals! Doch davon später.)

Ich strengte mich also an und brachte die guten Schulnoten jetzt eben zu Tante Enrica ins Frankfurter Westend, war sauber, höflich und gehorsam (damals noch!), mit gewaschenen und zu Zöpfen geflochtenen Haaren: eine brave Zehnjährige, die sich von ihren Eltern alleingelassen fühlt, doch kein Problemkind sein will. Bloß das nicht! Probleme haben meine Eltern schon genug. Sie haben durch den Krieg alles verloren und müssen wieder mal ganz von vorn anfangen. Dann ist es ja wohl das Mindeste, dass ich ihnen dabei helfe!

Doch in meinem Herzen blieb ein Stachel zurück.

Tante Enrica war elegant, blond, sprach leise und gewählt, roch gut und für sie schien es völlig in Ordnung zu sein, dass sie drei Töchter hatte und keinen Sohn (der kleine Fitzek war auf der Flucht gestorben). Ich liebte sie. Sie war mit Onkel Fitz verheiratet, der selten in Erscheinung trat, weil er das Geld für die Familie verdiente.

Tante Enrica war Hausfrau, aber eine elegante. Wenn wir zu Schade & Füllgrabe auf der anderen Seite der Bahngleise einkaufen gingen, um die Lebensmittel für die Woche zu besorgen, zog sie sich schick an – ein edles weiß-blaues Ensemble mit passender Kappe und Handschuhen (!). Ihre Töchter waren lustig, intelligent, die jüngste etwas kapriziös und alle drei sangen gern (ich auch). Tante Enrica sang ebenfalls gern. Sie hatte vor ihrer Heirat das Konservatorium besucht und wollte Opernsängerin werden. Dann aber waren Onkel Fitz, die Heirat, die Kinder und der Krieg dazwischen gekommen und sie hatte ihre Karriere aufgegeben. Nicht aber das Singen. In ihrer Wohnung wurde ständig gesungen und die Cousinen spielten Musik von Platten, die sie sich selber kauften. Von eigenem Geld! Das war neu für mich. Ich kannte kein Taschengeld. Neu war für mich auch, dass ein junges Mädchen Geld verdiente wie es eine meiner Cousinen tat, die es vorgezogen hatte, eine Lehre zu machen statt das Gymnasium zu beenden.

Dass sie das durfte! Selber über ihr Leben bestimmen! Selbst entscheiden, ob sie Abitur machen oder lieber früher als andere eigenes Geld verdienen wollte. Bei uns bestimmte das mein Vater. Er entschied, welches seiner sieben Kinder eine weiterführende Schule besuchen durfte und welches den Eltern beim Neuaufbau des Unternehmens helfen musste. Für ihn war es selbstverständlich, dass ich aufs Gymnasium ging, wenn ich das Zeug dazu hatte (d.h. wenn ich die Aufnahmeprüfung bestand, damals musste man das noch). Er hatte das Gymnasium mit dreizehn verlassen, weil sein Vater krank geworden war, und er seine Stelle einnehmen musste.

Die Cousinen spielten die von eigenem Geld gekauften Platten auf einem Plattenspieler im Wohn-zimmer der Familie, meist Operetten und Opern. Wir saßen in weichen, tiefroten Samtsesseln und/ oder auf einem roten Samtsofa, hörten Melodien aus Madame Butterfly, aus dem Land des Lächelns oder aus anderen Werken von Franz Lehár, Giacomo Puccini, Johann Strauß, Jacques Offenbach u.a. und sangen leise mit. Die Musik entführte uns nach Japan, China und in Länder unserer Fantasie und ließ uns träumen. Ich war verzaubert. Als Mädchen etwas gelten wie die Töchter der Tante! Ernst genommen werden und sogar eigenes Geld haben wie die Cousinen! Das war aufregend. Viel gesungen wurde auch bei uns zu Hause. Aber Geld verdienen durften nur mein Vater und – in beschränktem Umfang – meine Mutter.  

Eine der Melodien aus dieser Zeit ist mir in Erinnerung geblieben. Es war die Lieblingsarie einer der Cousinen (der, die schon Geld verdiente). Sie trällerte das Lied ständig vor sich hin, sang es, wo sie ging und stand. Es handelte von unglücklicher Liebe und der Refrain lautete: Immer nur lächeln und immer vergnügt, Immer zufrieden, wie´s immer sich fügt. Lächeln trotz Weh und tausend Schmerzen, Doch wie´s da drinnen aussieht, geht niemand etwas an…